Oktober 1943 – Oktober 2023 Zwangsarbeiter sind die ersten Sindelfinger Luftkriegsopfer

Projekt „Vor 80 Jahren – Sindelfingen im Krieg“ des Stadtmuseums und Stadtarchivs Sindelfingen

Die Nacht vom 7. auf den 8. Oktober 1943 ist im Landkreis Böblingen als schlimmste Bombennacht des Zweiten Weltkriegs auch heute noch im kollektiven Gedächtnis. Bei einem Nachtangriff, der Stuttgart galt, wurde ein Teil der Abwürfe fehlgeleitet und die Bomben gingen über zahlreichen Kreisgemeinden nieder, insbesondere über der Kreisstadt Böblingen. Viele Tote waren zu beklagen, die Zerstörung war immens.
 
Auch in Sindelfingen waren in jener Nacht die ersten Luftangriffs-Opfer zu beklagen. Es ist eine bittere Ironie des Schicksals, dass es 16 holländische und französische Zwangsarbeiter waren, die einem englischen Bombenangriff zum Opfer fielen, der überhaupt nicht das Sindelfinger Daimler-Benz-Werk zum Ziel hatte.
 
Mit zunehmender Kriegsdauer erhöhte sich der Anteil ausländischer Zwangsarbeiter an der Belegschaft des Sindelfinger Daimler-Werks stetig und erreichte im Herbst 1943 mit über 2.000 Personen seinen Höchststand. Entsprechend der nationalsozialistischen Rassenideologie unterschied man streng zwischen sogenannten „Ostarbeitern“ – überwiegend aus der damaligen Sowjetunion – und sogenannten „Westarbeitern“. Die Behandlung und Ernährung dieser Personengruppen wiesen große Unterschiede auf.
 
Bereits 1942 hatte Daimler-Benz die Planungen für ein großes „Westarbeiterlager“ aufgenommen, in dem etwa 1.000 Zwangsarbeiter aus Frankreich und den Niederlanden untergebracht werden sollten. Solche Lager mussten einen gewissen Abstand zum jeweiligen Werksgelände aufweisen, um bei Luftangriffen möglichst nicht mitbombardiert zu werden – was übrigens weniger humanitären Überlegungen entsprang, sondern damit zu tun hatte, dass man die wertvollen Arbeitskräfte nicht verlieren wollte.
 
In Sindelfingen gestaltete sich die Platzsuche schwierig und der letztendlich gefundene Bauplatz bei der ehemaligen Riedmühle (heute innerhalb des Werksgeländes) entsprach nicht den Abstandsvorgaben. Angesichts der Dringlichkeit der Unterbringung stellte das Luftgaukommando im Herbst 1942 aber schließlich seine Bedenken zurück, die Bauarbeiten konnten beginnen und im Mai 1943 abgeschlossen werden. Ein ehemaliger holländischer Zwangsarbeiter gibt einen Einblick in die Verhältnisse im Lager: „Wir Westarbeiter waren größtenteils im Lager Riedmühle untergebracht. Als wir im Mai 1943 dort ankamen, roch es noch nach frischem Holz – das Lager war ja gerade erst fertig geworden. Jede Baracke bestand aus zwei Räumen, und in jedem Raum standen rechts und links jeweils sechs Doppelstockbetten. Jeder Raum war also von 24, jede Baracke von 48 Personen bewohnt. Es gab in jedem Raum einen Ofen, auf dem wir auch gekocht haben.“
 
Bei Luftangriffen sollten die Arbeiter in Deckungsgräben in der Umgebung der Wohnbaracken Schutz suchen. Dies gelang in der Nacht vom 7. auf den 8. Oktober 1943, als Teile des Lagers durch Bomben zerstört wurden, nicht mehr allen Bewohnern. Die 16 ums Leben gekommenen jungen Männer aus Frankreich und den Niederlanden wurden am Rande des Alten Friedhofs beigesetzt. Nach dem Krieg wurden ihre sterblichen Überreste in die Heimat überführt. Während das Lager schnellstmöglich wieder aufgebaut wurde, fanden die Arbeiter zunächst zum Teil in Werkshallen und anderen Unterkünften eine vorläufige Bleibe. Bei gezielten Angriffen auf das Sindelfinger Werk wurde das Riedmühle-Lager im September 1944 endgültig zerstört – wieder gab es Tote unter den Zwangsarbeitern.
 
(Text: Horst Zecha)

„Westarbeiterlager“ bei der Riedmühle, Mercedes-Benz-Archiv
Reihengräber der „Westarbeiter“. Beisetzung nach der Bombardierung vom 8. Oktober 1943, Mercedes-Benz-Archiv
(Erstellt am 25. Oktober 2023)